Unser Leitbild
1. Meine Klasse in meiner Schule
Für Hannes Strohkopp war die Schule ein Marterpfahl. Er war nicht besonders groß (Turnriege letzter Platz, zweite Reihe), und wenn die Klassenbanditen auf ihn losgingen, dann zu fünft: keine Chance für Strohkopp. Vornweg der Klassenschläger Schleicher mit seinen verdammten offenen Turnschuhen, ein feiger Gringo mit einem Lebendgewicht von vierzig Kilo. Viel zu fett. Schnauze wie ein Krokodil, im Kopf ein Vakuum. Am allerschlimmsten für Hannes Strohkopp aber war Birkenpappel, Lehrer dieser Klasse Drei A. Die Zensuren für Strohkopp waren speziell zu seiner Marter erfunden, alle total im Keller. Strohkopp rettungslos verloren, nichts ging mehr für ihn.
- Aus Janosch, Hannes Strohkopp der unsichtbare Indianer
Wir sind in einer eigentümlichen Situation. Wir kennen mittlerweile konservative und fortschrittsoptimistische Lern- und Erziehungsmodelle. Unsere Didaktik ist bereichert durch evolutionsphilosophische Entwicklungstheorien. Wir wissen, dass wir unsere Lernbedingungen ganz allgemein ändern müssen, um uns in den vernetzten Strukturen gewordener Kultur zu erkennen. Lernen unter vernetztem Denken! So erschütternd es ist, dass die wirkliche Beschaffenheit unserer Weit unserem Verstand rational definitiv unerreichbar ist, so dringend erwächst die Aufgabe, die existentielle Problemfülle dem Menschen erfahrbar zu machen. Unser Problembewusstsein ist zum Verzweifeln hoch.
Nur nach der Schule, wenn er draußen war, erging es dem Hannes etwas besser. Da ging er zum Teich und in den Wald, und dort kannte er jede Mausespur im Sand. Kannte die Schmetterlinge und Pflanzen, die Vögel, Fische, Wassertiere. Kannte sie, weil er ein Späher war. Ein Späher und Spurensucher. Du kannst innerlich ein Späher sein und äußerlich in die Schule gehen und dort gemartert werden, das geht. Ein Späher ist einer, der alles sieht und hört; ein Spurensucher, einer, der alles findet, was rund um ihn herum ist. Sein Reich erstreckt sich vom Teich bis zu den blauen Bergen am Horizont. Und der ganze Wald gehörte natürlich dazu. Die Felder, die Wiesen. Nur: Das nützt dir bei den Philistern und Schulgringos nichts.
- Janosch
Doch zur Verzweiflung gibt es keinen Grund. In stillen Minuten wissen wir das. Unsere Kinder besitzen alle Möglichkeiten, diese Welt vielsinnig zu erfahren. Wir aber leben als ihre Lehrer an exponierter Stelle, wir können mit ihnen lernen. Von Frederic Vester wissen wir, dass Angst der größte Lernblocker ist, den wir kennen. Das Schulprogramm als erlaubter Freiraum im Alltag, d.h. nicht nur im Schulalltag, kann eine befreiende Reaktion auf erfahrene Sinnlosigkeit, nicht erfaßten Sinn, auf Furcht und Fluchtbewegung in den Themen des Alltagsstoffes hervorrufen. Wir müssen unsere Kinder auch in den Zeiten sehen, in denen sie ihre Lernräume und Erlebniswelten selbst organisieren. Was sehen wir und was verstehen wir. Mit einer Entfernung von Jahrzehnten fällt es uns schwer, die Spiel und Eislöffelzeit zu verstehen. Und doch, beinahe magisch zieht es den erwachsenen Geist in diese Welt zurück. So viel Poesie in so viel Kindheit lässt ahnen, an welcher Ganzheit wir arbeiten düen. Die Banalitäten dieser Welt werden in ihrem Licht zu Offenbarungen einer anderen Wirklichkeit, aus der wir alle kommen und in die wir zurückkehren möchten, und nach der wir uns Zeit unseres Lebens sehnen, obwohl wir sie vergessen haben.
Was für eine Schule hätten Sie sich selbst gewünscht?
2. Zwischen-Ziele des Programms
Es wachsen alle Kinder, Sogar im kalten Winter. Sie wachsen stets sehr leise, Sie werden klug und weise. Und würde man sie gießen, So würden sie zu Riesen.
- Uta M., 2. Klasse
Hier zeigt sich die große Möglichkeit des Programmteils "Meine Klasse in meiner Schule". Was stecken denn hier für mögliche Lernziele? Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass es keine Lernziele im klassischen Sinne eines schulischen Lernziels sein können. Hier dürfen seltsame Dinge mit uns geschehen. Der behördliche Zuschauer wird sich abfinden müssen. Da geschieht etwas, und das Geschehen ist offen. Das gelungene Schulprogramm hat hier sein Maß, d.h. erstes Lernziel ist Offenheit. Wir müssen nicht alles gleich richtig machen, sondern haben immer die Möglichkeit, lrrtümerzu korrigieren. Das Zusammengehen in der Zeit unseres Schulprogramms von Schülern mit Schülem und ihren Lehrern läßt Raum für Rückmeldungen. Hier beginnen wir, den Schulalltag für unsere Kinder zu versinnlichen. "Meine Klasse in meiner Schule" soll den Lebensprozess der Kinder über ihre ganze Sinnesvielfalt in die Schule holen, hier können wir die Schule so gestalten, dass diese Ganzheitlichkeit in der folgenden Zeit den Kindern nicht wider Erwarten geschieht. Die Befreiung des eigenen Gestaltungsvermögens ist ein weiteres Lernziel unserer Schulprogrammarbeit. Die Kinder spielen, malen, gestalten, musizieren miteinander, und ihr Lehrer findet sich mit ihnen in einer ganzheitlichen Weltaneignung, die ihm wohl ans Herz gehen wird. Es ist eine ganzheitliche Arbeit gegen das "verborgene Curriculum" der Wissenschaftlichkeit, das uns durch den Alltag hetzt. Das Können der Kinder wird von ihnen selbst lebensnah gemischt, der Gebrauchswert des Gelernten rückt in den Vordergrund. Das didaktische Prinzip solcher Lernprozesse wird in verschiedenen Arbeiten als forschendes Lernen umschrieben. Dieses Lernen ist aber durch die bereits oben geforderte Offenheit gekennzeichnet. Wir können es hier auch ganz deutlich sagen: Die verkrampfte Suche nach einer Übereinstimmung unserer Programmarbeit mit den Lernzielen der Rahmenrichtlinien sind hier ganz und gar unnötig. Auf dem Stand des jeweils erreichten Wissens und Könnens wird über den komplexen Gebrauch der Sinne das flexible Denken geschult. Die Perspektivenvielfalt fordert das schöpferische Denken, und die Freiheit des Schulprogramms baut Kampf und Ängste ab. Der fachübergreifende Unterricht erlaubt den Kindern, über das verknüpfte sinnliche Lernen auch ihre sozialen Kontakte untereinander konstruktiv zu gestalten. Der einfühlsarme Lehrer wird hier die Möglichkeiten finden, mit seinen Kindern Kritik in beiden Formen zu üben und damit praktisch Verantwortung erproben.
Je bunter die Eier, um so größer die Freude der Beschenkten. Und um so schöner die Zensur. Natürlich", hatte Birkenpappel gefaselt. "Je mehr Farben", hatte Strohkopp gedacht, "um so bunter das Ei, logisch." Dann malte er. Hatte er einen geraden Strich angefangen, fürchtete er, das könne falsch sein. Wellenlinien waren sicher besser. Er malte eine Farbe darüber, fürchtete, sie sei vielleicht falsch, malte eine andere darüber, das schmierte wieder, und das Ei wurde gräulich grau oder grüngrauschwarz. "Strohkopp" feixte Birkenappell, "ganz klar. Strohkopps Ostereier sind die schwärzesten. Sechs einfach, Malen ist kein Hauptfach, da begnügen wir uns mit einfachen Zensuren. - Janosch
An dieser Stelle zeigt sich das nächste "Lernziel" unseres Programmteils "Meine Klasse in meiner Schule". Es ist die Minderung des Leidensdruckes der erzwungenen Phantasielosigkeit des Schulalltags. Die bürokratische Erstarrung unseres Schulwesens, die Verrechtlichung unserer Beziehungen, Leistungsdruck und die Freudlosigkeit des Schultyps "Erfurt" sind nicht nur unsere Tagesrahmen, sondern auch die der Kinder an unserer Schule. Und jetzt geschieht das Unfassbare. Das hübsche Königskind lässt seine goldene Spielkugel in den Brunnen fallen. Oft ist die Tür zum magischen Kosmos der kindlichen Weitsicht nur leicht durch Alltags- und Schulrationalität verstellt. Das natürliche Regulativ zum phantasievollen, das heißt vernetzten Erfassen der Weit ist noch da und bahnt sich in der Regel sowieso seinen Weg in die Wirklichkeit, wenn wir es nicht verhindern. Diese erweiterte Welt erlaubt den Kindern, psychische Spannungen und Konflikte bewußt zu machen und zu bewältigen. Das phantasievolle Spiel schafft den Kindern das Miteinanderleben in ihrer eigenen, phantasiebetonten, magisch von Geistwesen geprägten Weit. Von hier aus entfalten sich Neugier und Lernbereitschaft, so dass das mythische sich zum realistischen Weltbild wandelt. Die Vorstellungswelt rückt schrittweise in die rationale Wirklichkeit, und es entsteht hinter der Phantasiewelt die neu erlente Welt auf der abstrakt begrifflichen Ebene. Welchen Teil der Wirklichkeit Lehrer und Kinder in welcher Ebene der Phantasie miteinander erleben wollen, ist natürlich hier ganz offen. Hannes allerdings muss ganz allein mit seinen misslungenen Osterei in den Urwald. Dort wird sein Freund Jonas von einem Panther bedroht.
Aber Jonas hatte den Panther selbstverständlich gesehen. Locker ein Schuß aus der Winchester, kleines Loch zwischen den Augen, und da lag er nun. Tot. "Tut mir leid, Bruder Panther, tut mir leid", sagte Jonas. "Jonas tötet keinen Panther unnötig. Aber dieses Mal musste es so sein. Einer von beiden war dran. - Janosch
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um ein forschendes Lernen in ihrem Unterricht zu iniziieren?
3. Das Schulprogramm als ein Erlebnis
Der Spiegel ist ein Tropf, Verdreht mir meinen Kopf, Schau ich aus ihm hervor, Ist links mein rechtes Ohr. Zum Glück bleibt oben oben Und das kann ich nur loben - Sonst müsst ich mit den Füßen Statt mit dem Kopfe grüßen. - Susanne K., 5. Klasse
Das Erlebnis unseres Schulprogramms wird deutlicher. Es geht um die Selbstbestimmung des Einzelnen im Erleben der Gruppe. Das soziale Lernen ist schon rein biologisch auf eine Atmosphäre der Vertrautheit, der Entspannung, des Sichwohlfühlens zugeschnitten. In einer Schulatmosphäre, die Freude, Erfolgserlebnisse und Probierfelder schafft, kann komplex gelernt und kreativ individuell gelebt werden. Angst, Frustration und Prestigekämpfe schaffen mit gewaltigen Einsatz dagegen nur lächerliche Lernergebnisse. Im Schulprogrammpunkt "Meine Klasse in meiner Schule" soll der soziale Raum, in dem die Kinder auf den anderen bezogen zu leben lernen, geübt werden. Hier soll, relativ gefahrfrei, die mögliche soziale Kompetenz trainiert werden können, die es erlaubt, in einer demokratischen Gesellschaft selbstbestimmt leben zu können. Die Klasse ist die Sozialform innerhalb des Tagesgeschehens, die eine eigene, erstmals auch selbstgenommene kulturelle Bestimmung und Abgrenzung ermöglicht. Eine Abgrenzung, die nötig ist, um dann mit ihr Integrationsfähigkeit und Solidarität zu erproben. Und diese Integrationsfähigkeit ist ein Erlebnisfeld, das viele Erwachsene selbst nur mit kaum beschriebener Unsicherheit bearbeiten. Integration von Fremden macht Mühe. Der, der sich nicht in der Gruppe befindet, verkörpert unsere eigene Haltlosigkeit. Das Band der Zugehörigkeit, Vertrautheit und Verfügbarkeit ist dünn. Sein Verlust aber bedeutet den sozialen Tod. Durch Selbstbestimmung und Bejahung der eigenen Persönlichkeit können die Strukturen der eigenen Verankerung in dieser Weit erlebt werden.
Denn kaum hatte er Strohkopps Hand gepackt, da flog er - der Schleicher mit den verdammten offenen Turnschuhen nämlich - selber wie ein leichter Fetzen Nichts über den Hannes und landete im Papierkorb. Papierkorb zertrrümmert. "Der Krieger handelt so, als wäre er grenzenlos stark." Und das hatte funktioniert. Damit war der Schleicher mit den verdammten offenen Turnschuhen aus dem Verkehr gezogen. Und was das schlechte Benehmen angeht: Es gab auch keinen Verräter mehr in dieser Klasse. Wo Strohkopp in der Nähe war, benahm sich jeder echt. Es wurde wieder vorgesagt, und zwar richtig. Baum trug keine schlechte Zensuren mehr ein. Die schlimmsten waren ein paar Vierer von niemandem zu fürchten, denn wegen einer Vier sollte man zu Hause keinen Ärger bekommen! Und den Papierkorb meldete Baum als durch ein unvermeidliches Ereignis ein wenig zerstört. Keine Nachforschung, kein Radau von seiner Seite. Eine gute Zeit. - Janosch
Erst von hier aus kann die Verankerung des anderen Kindes im Leben akzeptiert und für mich selbst als notwendig erfahren werden. In der Programmarbeit ist das gemeinsame Erfahrung sammeln auf diesem Gebiet möglich. Seiten wird uns so deutlich, wie sehr das Lebensspiel hier das Leben selbst ist. Kinder, die hier schon miteinander ihre kreativen Möglichkeiten, ihre soziale Geschicklichkeit, ihr intellektuelles und motorisches Vermögen erlebt haben, sind sich selbst, d.h. ihren destruktiven Trieben, aber auch sozialer Dummheit und Arroganz weniger ausgeliefert. Besonders deutlich zeigt sich, dass der Lehrer, der hier gebraucht wird, sehr, sehr kompetent sein sollte. Kompetenz ist aber eigentlich das falsche Wort, denn es muss eine Kompetenz sein, die von liebevoller Autorität getragen wird. Natürlich haben wir mehr oder weniger alle diese liebevolle Kompetenz. Wen es aber interessiert, wie aus dem Lehrer Birkenpappel durch das "Programm - Der unsichtbare Indianer" wieder der Lehrer Hannes Baum wird und wie dieser selbst erkennt, dass er in der Zwischenwelt ein Späher und Spurensucher ist, der sollte sich die Geschichte des Hannes Strohkopp nicht entgehen lassen.
Welche Projektformen wünschen Sie sich, damit das Schulprogramm zum Erlebnis wird?